Geschichte

Four Reto Maron, Ehrenpräsident der Sektion Bern des SVMLT

Als Verfasser dieser kurzen geschichtlichen Abhandlung des Berner Distanzmarsches gestatte ich mir gewisse Passagen in der ich/wir-Form zu schreiben, denn seit dem Jahre 1970 durfte ich praktisch ununterbrochen ein Bestandteil dieses tollen Anlasses sein.

«Unser Kamerad Wm Crivelli, welcher seit vielen Jahren den Berner Distanzmarsch mit der Schweizerfahne absolviert, umrahmt vom ehemaligen Kommandanten, Fw Michael Waber links und dem Verfasser, Four Reto Maron, rechts»

Bei Tradition geht es nicht darum, frühere Generationen nachzuahmen. Es geht darum, aus ihren Erfahrungen zu lernen.

Wir schreiben das Jahr 1956. Die Revolution begann im Oktober mit einer friedlichen Demonstration der Studenten in Budapest. Damals gehörte Ungarn zum sogenannten Warschauer Pakt und lag damit im kommunistischen Gebiet hinter dem Eisernen Vorhang. Sämtliche Bemühungen der Länder hinter dem Eisernen Vorhang zu mehr Demokratie wurde von der mächtigen Sowjetunion brutal unterdrückt, wenn nötig unter Beizug militärischer Intervention. So endete auch dieser Freiheitskampf mit dem Einmarsch der sowjetischen Armee in Ungarn. Dies schürte auch die Angst im Westen vor weiteren militärischen und wirtschaftlichen Auswirkungen. Auch die Schweiz wurde davon nicht verschont. So wurden einschneidende Massnahmen getroffen, was unter anderem auch die Rationierung des Treibstoffes zur Folge hatte.

Obwohl zu dieser Zeit in der Schweiz noch nicht jeder Haushalt ein Auto besass, waren jedoch etliche Mitglieder der Sektion Bern des SVMLT von diesen Massnahmen betroffen. Dies war der eigentliche Startschuss zum Berner Distanzmarsch, seinerzeit auch Nachtmarsch genannt. Da die Hauptversammlung der Sektion Bern jeweils Anfangs Dezember stattfand hatten zwei Offiziere und Mitglieder der Sektion die Idee, dass der HV-Ort von allen Mitgliedern von zuhause aus zu Fuss erreicht und gleichzeitig mit einem militärischen Wettkampf verbunden wird. Daraus entstand der Berner Distanzmarsch und die beiden (leider verstorbenen) Kameraden Heinz Krähenbühl und Walter Bürki gelten als Gründerväter dieses traditionellen Anlasses.

Die damals gültigen und lange dauernden Bedingungen waren etwas anders als heute. So dauerte der Anlass von Samstag 17:00 Uhr und endete am Sonntag punkt 07:00 am Zielort, welcher jahrelang gleichzeitig Durchführungsort der jährlichen Hauptversammlung der Sektion Bern war. Deshalb auch die Bezeichnung Nachtdistanzmarsch. Gestartet werden durfte von irgendeinem Ort im Kanton Bern aus. Als Bestätigung dafür galt eine beglaubigte Unterschrift auf der Startkarte einer offiziellen Amtsstelle (z.B. Polizeiposten, Post, Bahnschalter, Pfarrei o.a.). Daraufhin hatten sich die Teilnehmenden auf dem kürzesten Weg ins Streckennetz «einzufädeln» und diesem zu folgen. Im Weiteren waren, mit Ausnahme der Kategorie Jugend & Sport, nur Marschierende in Uniform zugelassen (Militär, Bahn, Post, Zivilschutz, Feuerwehr usw.). Zivile Begleitung war nicht zugelassen. Auch die Wertung erfolge nach einem speziellen Schema. Damit eine Berechtigung auf eine Medaille bestand, mussten 70 Punkte, bei einer minimalen Marschleistung von 10km, erreicht werden. Zusätzlich zu den Kilometern (ab 30km doppelt gewertet) und dem Alter, wurden auch die Waffen und das im Rucksack mitgeführte Gewicht bewertet. Dies hatte zur Folge, dass im Zielraum 10 grosse Waagen aufgestellt wurden, um die Rucksäcke zu wägen. Leider wurde der Inhalt dieser Rucksäcke nie kontrolliert und wir merkten erst nach langer Zeit, dass die Steinhaufen kurz vor dem Ziel abgenommen haben und dafür nach dem Ziel jeweils neue Berge entstanden.

Unter dem Kommando von Oberst Heinz Krähenbühl durften wir jahrelang jeweils Anfangs Dezember einen sehr erfolgreichen Anlass durchführen. Ob eisige Kälte mit gefrorenen Strassen, Regen, Schnee, aber auch angenehme Bedingungen blieben wir glücklicherweise von ernsten Vorfällen verschont. Da der Distanzmarsch jeweils die ganze Nacht dauerte, hatten wir immer wieder mit alkoholisierten Teilnehmenden zu kämpfen, so dass auch kleinere Scharmützel nicht ausblieben. Diese wurden jedoch von den Sicherheitskräften jeweils geschlichtet, so dass der gesamte Ablauf nicht beeinträchtigt wurde. Auch als sogar einmal die Schlagzeile im «Blick» «Ausbruch aus dem Thorberg-Gefängnis dank Berner Distanzmarsch» für Furore sorgte, brachte uns dies nicht aus der Ruhe. Die Lösung dazu war ganz einfach: Das Ziel des damaligen Distanzmarsches war Burgdorf und viele Marschierende wählten den Weg via Krauchthal. Dies hatte zur Folge, dass viele Teilnehmende auf dieser Achse unterwegs waren, so dass sich die Ausbrecher unbemerkt unter die Marschierer mischen konnten. Soviel ich weiss nützte ihnen dies nichts, denn etwas später wurden sie wieder gefasst. Heute wäre eine solcher Strom von Marschierenden kaum denkbar. Während den besten Zeiten des Berner Distanzmarsches durften wir jedoch gegen 6’000 Teilnehmende begrüssen.

Damals war auch der Aufwand punkto Organisation enorm. Man stelle sich vor, der Begriff EDV oder IT existierte noch in keinem Duden, alles geschah in Handarbeit. Der Versand von ca. 7’000 Ausschreibungen, die Kontrolle und Verbuchung der Einzahlungen, die Behandlung von Anfragen etc. nahm einen enormen zeitlichen Aufwand in Anspruch. Ohne die Unterstützung des damaligen BAMLT (Bundesamt Mechanisierter und Leichter Truppen) und unzähliger Helfer, hätte diese Arbeit nie erledigt werden können. E-Mail war ein Fremdwort und der Fotokopierer durfte aus Kostengründen nur im Notfall benützt werden. Für Drucksachen war die hauseigene Druckmaterialzentrale zuständig und andere Sachen wurden mühsam mittels Alkohol- oder Wachsmatrizen hergestellt, so auch in der Auswertung.

Apropos Auswertung: Dies waren damals die heiligen Hallen des Distanzmarsches. Morgens gegen 04:00 Uhr schwebte der sehr beliebte und leider auch verstorbene Oberst Eric Burn mit seinem (meist weiblichen) Gefolge ein. Bildschirm, Maus, Tastatur? Fehlanzeige. Die Werkzeuge damals hiessen Hermes Ambassador oder IBM-Kugelkopf und eine Menge Matrizen und Papier zum Umdrucken. Sobald die Auswertung ihre Arbeit aufnahm hörte man nur noch das Klappern der Schreibmaschinen und ein Flüstern beim Sortieren der tausenden von Marschkarten. Wagten wir uns vom Kommando mal für eine Auskunft in die heiligen Hallen der Auswertung wurden wir vorerst mit einem Psssst begrüsst und die Gangart erfolgte auf den Zehenspitzen um jeglichen Lärm zu vermeiden.

Unter Oberst Heinz Krähenbühl herrschte ein strenges Regime, auch punkto Abgabe der Medaille. Niemand, aber wirklich niemand, der die Bedingungen nicht erfüllte, erhielt eine Medaille. Punkt um 07:00 wurden die Tore des Ziels geschlossen. Wer auch nur 10 Sekunden später eintraf, wurde nicht mehr rangiert und erhielt keine Auszeichnung, egal ob dieser 50 oder 100 km in den Knochen hatte. Legendär war auch der Funktionären-Vormarsch. Jeder Funktionär, welcher eine Medaille tragen wollte, musste die gleichen Bedingungen wie die Wettkämpfer erfüllen. Also fand auf der gleichen Strecke ca. einen Monat vor dem eigentlichen Marsch, der sogenannte Vormarsch statt mit dem einzigen Unterschied, dass einfach auf einer Achse marschiert wurde. Damit man auch auf die 70 Punkte kam, musste man sich einfach früher oder später in dieser Achse einfädeln, damit man die nötige Marschdistanz zurücklegte.

Unser Marsch blieb auch im benachbarten Ausland nicht unbemerkt. Der Startschuss zur internationalen Beteiligung erfolgte in den 80iger Jahren durch die Beteiligung der Marschgruppe Südbaden unter der Leitung von Hptm Duderstadt. Dies war damals eine Sensation und wertete den Distanzmarsch auf. Übrigens blieb Kamerad Duderstadt dem Distanzmarsch noch während Jahren treu und war immer ein sehr gern gesehener Kamerad geblieben.

In den folgende Jahren wurden immer mehr Kontakte zu ausländischen Armeen geknüpft und es entstanden langjährige Freundschaften, so z.B. auch zu Marschgruppen aus Österreich, welche uns bis heute treu geblieben sind. Den Hauptanteil ausländischer Kameraden machten seit je her die Gäste aus Deutschland aus. In den 80iger Jahren wurden Mitglieder verschiedener Sektionen des SVMLT zur Teilnahme an die legendäre Übung Saarschleife ins schöne Saarland eingeladen.  Unter anderem durfte auch ich verschiedene Male die Wälder und Wiesen des Saarlandes durchstreifen. Als Gegeneinladung erfolgte alsdann der Besuch einer Delegation der Reservisten aus dem Saarland am Berner Distanzmarsch. Daraus entstand eine tiefe Kameradschaft und Freundschaft zwischen dem Reservistenverband Saarland und der Sektion Bern des SVMLT was in einer urkundlich dokumentierten Patenschaft niedergeschrieben wurde. Heute sprechen wir nicht mehr von Gästen, denn diese Kameradinnen und Kameraden sind ein Teil von uns geworden. Einzelne Teilnehmende haben bereits über 20 Distanzmärsche absolviert und haben auch für willkommenen Familiennachwuchs gesorgt. Im heutigen Zeitpunkt wäre ein Distanzmarsch, auch von der Anzahl teilnehmender hergesehen, ohne internationale Beteiligung undenkbar geworden.

Marschgruppe Südbaden

Die Zeiten änderten sich stetig und auch der Distanzmarsch musste sich laufend den neuen Bedürfnissen anpassen. So entschieden wir uns z.B. die gesamte Punktewertung zu vereinfachen und anzupassen, indem z.B. das mitgeführte Gepäck nicht mehr gewertet wurde. Massgebend waren schlussendlich nur noch die zurückgelegten Kilometer und das Alter. Um wieder vermehrt jüngere Menschen zu animieren am Marsch teilzunehmen, kamen wir weg vom reinen Nachtdistanzmarsch und ermöglichten den Start um 12:00 Uhr mit Zielschluss 22:00 Uhr. Dies mit der Überlegung, dass, gerade für jüngere Teilnehmende, der Samstagabend frei für den Ausgang war. Auch stieg die Nachfrage nach der Teilnahme von Zivilpersonen. Daher entschieden wir uns, anfänglich mit einer Kategorie «Sie & Er» zu starten. Auch dies geschah nach reiflichen Überlegungen in der Richtung, dass es für die Partnerin keinen Grund mehr gab ihren Partner von der Teilnahme am Distanzmarsch abzuhalten. Sie durfte ihn von nun an ja begleiten.

Der grösste Schritt war jedoch meine Idee als damaliger Präsident der Sektion Bern des SVMLT, den Distanzmarsch von der Hauptversammlung zu trennen und damit mit einer langjährigen Tradition zu brechen. Wir haben festgestellt, dass viele Mitglieder, welche den Marsch absolvierten, der Hauptversammlung fernblieben, weil sie der wohlverdienten Bettruhe den Vorrang gaben. Diejenigen Mitglieder, welche hart blieben und nach 40, 50 oder mehr Kilometer trotzdem der Hauptversammlung beiwohnten liefen in Gefahr, einzuschlafen und nicht selten war aus der einen oder anderen Ecke ein lautes Schnarchen zu hören.

Trotz aller Bemühungen nagte der Zahn der Zeit an unserem Anlass und es wurde immer schwieriger, Funktionäre zu finden und Teilnehmende zu gewinnen und es wurden Stimmen laut, den Berner Distanzmarsch aufzugeben. Zum Glück fand sich in dieser kritischen Zeit in der Person von Hptm Ruedi Lehmann ein Kamerad und langjähriger Kenner der Militärischen Marschszene, welcher an vorderster Front für die Weiterführung des Berner Distanzmarsches kämpfte. Zusammen mit Major Urs Burkhalter als Wettkampfkommandant führten sie den Anlass wieder auf Erfolgskurs.

Zwischenzeitlich konnte auch deren Nachfolge geregelt werden und mit dem amtierenden Wettkampfkommandanten, Hptadj Adrian Venner und seinem Stab, ist die langfristige Weiterführung des traditionellen Berner Distanzmarsches absolut sichergestellt. Die neue Führung garantiert für Stabilität und Erhaltung des Anlasses ganz im Sinne der Gründerväter, angepasst an die neuen zeitlichen Gegebenheiten. Der Erfolg gibt uns allen Recht, denn welcher Anlass darf auch nach über 60-jährigem Bestehen auf eine erfolgreiche Zukunft schauen? Apropos Treue und Zukunft: An dieser Stelle möchte ich doch einen Kameraden speziell erwähnen, nämlich Pol Wm Fürst Paul, welcher bis anhin ALLE Distanzmärsche lückenlos absolvierte. Dies ist der beste Beweis, was das Wort Treue bedeutet.  

Ein Meilenstein und ein Beweis für das Engagement und die flexible Haltung des jungen Teams zeigte die Durchführung des Remote-Marsches 2020 aus gegebenem Anlass (COVID-19). Die rund 600 Teilnehmenden bewiesen ihre Treue und das Interesse am Berner Distanzmarsch, was den Stab beflügelte, mit dem gleichen Engagement den Berner Distanzmarsch in eine sichere Zukunft zu führen.

Noch ein persönliches Wort des Verfassers:

Diese geschichtliche Abhandlung verstehe ich auch als Homage an alle Kameradinnen und Kameraden, viele sind leider schon in die ewige Heimat abberufen worden, welche während all den Jahren mitgeholfen haben, sei es als Funktionäre oder Teilnehmende, dem Distanzmarsch zu dem Erfolg zu verhelfen, den er verdient hat. Zugleich soll dies eine Motivation für die nachkommende, junge Generation sein, die Tradition des Berner Distanzmarsches mit grossem Einsatz und nach bestem Wissen und Gewissen weiter zu führen und ich bin überzeugt, dass dies der Fall sein wird.